„Qualität ist, wenn der Kunde zurückkommt und nicht das Bier“ – so ein markiger Spruch aus den 90ern. Der Kern dieser Aussage ist: Die Qualitätsbeurteilung erfolgt letztendlich durch den Kunden. Es ist Zeit, die Qualitätssicherung darauf auszurichten.
Der Bierkonsument hat weder mikrobiologische Anreicherungsmedien oder analytische Messgeräte zur Verfügung, sondern ausschließlich seine eigenen menschlichen Sinne. Die Sensorik als fundierte Wissenschaft über die Wahrnehmung, Beschreibung und Bewertung von Produkten mit den menschlichen Sinnesorganen ist daher der wesentliche Faktor bei der Kaufentscheidung.
Bier-Designing
Vergleichen wir einmal den Kaufentscheidungsprozess bei einem Auto und einem Bier. In den Katalogen der Automarken finden wir Messwerte für Beschleunigung, Leistung, Höchstgeschwindigkeit, Verbrauch oder Kofferraumvolumen. Sie qualifizieren das Auto beispielsweise als Sportwagen, Stadtauto, Familien-Van oder geländegängigen Allrounder. Doch wer entscheidet sich nur anhand dieser Werte zum Kauf? Ohne eine Besichtigung und Probefahrt wird ein Autokauf wohl nicht getätigt. Das besondere Design, die Haptik des Interieurs, die ergonomische Anordnung der Bedienungselemente, der Sound des Motors, das Fahrverhalten auf verschiedenen Untergründen und Geländeformationen und die vielen kleinen praktischen Apps und Features zur Risikominimierung erzeugen zusammen mit dem Image der Marke ein Gesamtbild von der Güte des Autos, das dann zur Ablehnung oder zum Kauf führt.
Ähnliche Prozesse laufen auch beim Bier ab. Die gängigen Messgrößen wie Bierfarbe, Bittereinheiten, Alkoholgehalt, Restextrakt, Kohlensäuregehalt oder pH-Wert machen nur eine grobe Einteilung in die weltweit laut Beer Judge Certification Programm rund 120 Biersorten möglich. Die Messungen geben uns auch verlässlich Auskunft über die Grundkonstanz unserer betrieblichen Arbeitsweise. Darüber hinaus entscheidet aber die Summe der menschlichen Sinneswahrnehmungen über den kompletten Qualitätseindruck. Inwieweit und warum ein Bier zum Weitertrinken anregt wurde immer wieder erforscht. Dennoch wird der Fokussierung auf die sogenannte Drinkability, was den Gesamteindruck beim Autokauf entspricht, immer noch zu wenig Beachtung geschenkt.
Beim Auto erwarten wir uns schon lange nicht nur Verlässlichkeit, sondern zielgruppenspezifische Benefits. Sportliche Modelle verlangen neben einem drehmomentfreudigen Motor, auch ein schnittiges Design, stabilisierende Sitzschalen oder modernste Multimedia-Technik für das doch eher jüngere Kaufpublikum.
Der Fokus der betrieblichen Biersensorik liegt immer noch im Training und der Erkennung von Bierfehlern. Wichtig, ohne Frage, aber mittlerweile eher Basisarbeit. Es sollten andere Ziele formuliert werden: Wo liegt denn die sensorische DNA meines Biersortiments? Welches sensorische „Design“ sollten meine Biere haben, damit sie in meiner Käuferschicht gut ankommen? Spreche ich mit meinen Bieren immer neue Käufer an, die die Extravaganz und außergewöhnliche Story der Biere lieben, oder setze ich mehr auf Nachhaltigkeit, wo sogar Kriterien aus den viszeralen Sinnesreizen (u.a. Bekömmlichkeit) untersucht werden: Wie hoch sind die in meinem Bier Allergien und Unverträglichkeiten auslösenden Stoffe?
Ein großes Problem stellt auch die sogenannte „Geschmacksdrift“ dar. Kleinere Eingriffe und Veränderungen im Produktionsablauf oder der Rohstoffqualität bleiben unbemerkt und addieren sich dann über viele Jahre zu einer markanten Qualitätsveränderung. Es macht also Sinn, die Flavour-Attribute einer jeden Biersorte hinsichtlich ihrer Ausprägung und Intensität exakt zu definieren – beispielsweise durch den sensorischen Vergleich mit dem Kategorie-Sieger des European Beer Stars – und seine Chargen immer mit diesem „Best case“-Bier zu hinterfragen. Dazu eignen sich sehr gut Spinnennetz-Diagramme, die quasi den Fingerabdruck meiner sensorisch untersuchten Biere darstellen.
Umgekehrt ist auch die Erwartungshaltung an ein Bier nicht statisch. Sie verändert sich laufend und kann auch regional in den Verkaufsgebieten ganz unterschiedlich sein. Ein norddeutsches Pils kann im hohen Norden Deutschlands nicht bitter genug, aber im Chiemgau wegen der Bittere unverkäuflich sein. Sensorisches Bier-Designing bedeutet daher auch, Veränderungen des Marktes zu erkennen, die Rezepturen entsprechend laufend anzupassen und auf die regionalen Unterschiede eventuell durch verschiedene Chargen oder Sorten einzugehen.
Bier-Designing erfordert, sich mit den Vorlieben der Konsumenten zu beschäftigen. Mit der sogenannten PCA-Analyse (Hauptkomponenten-Analyse) können Marktforschungen durchgeführt werden. So hat die ACS (American Chemical Society) 2020 festgestellt, dass Aromen nach Zitronen, Limonen, Orangen und tropischen Früchten bei den Konsumenten deutlich beliebter (70-80% Zufriedenheitsrate) sind als beispielsweise Aromen nach Bananen oder Honig (30-40% Zufriedenheitsrate) oder Kaffee-Aromen (20-30% Zufriedenheitsrate). Und das die Bewertung entsprechender Biere zwischen trainierten Verkosterpanels und Marktbefragungen bei Bierkonsumenten sehr große Unterschiede in der Präferenz aufweist. (1).
Würden die Ergebnisse auch für unsere Märkte stimmen, wäre es für Mainstream-Biere sinnvoll, Hefestämme und Hopfensorten einzusetzen, die die Zitrusnoten fördern und beispielsweise durch das Stopfen von Hopfen am Ende der Gärung durch Biotransformation zitrusartige Aromen zu unterstützen.
Da das Bier außer Haus in der Regel aus den brauerei-eigenen Markengläsern konsumiert wird, kann der Gast seine sensorische Qualitätsbewertung nur in der Kombination aus Flüssigkeit und Glas vornehmen. Dass das Glas enorme Einflüsse auf unsere Kopfhaltung, Mund- und Zungenposition und -anspannung, allgemeine Körperspannung, Überströmbreite und -geschwindigkeit über die Zunge, Anreicherung der flüchtigen Aromamoleküle im Glas- und Mundraum und vieles mehr hat, ist seit der Diplom Biersommelier Ausbildung bekannt. Nicht ohne Grund ist der Willi-Becher eine Glasform, die nachweislich den Mengenkonsum fördert. Die Entwicklung der biersortenspezifischen Flavour-Attribute ist daher verpflichtend zusammen mit dem für das Bier vorgesehene Bierglas vorzunehmen!
Sensorik als neue Management-Aufgabe
Wie wir beim Bier-Designing gesehen haben, erfordern sensorische Fragestellungen ein systematisches und zielgerichtetes Vorgehen unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundsätze und Methoden. Die menschlichen Sinne sind im Vergleich zu technischen Messsystemen hochkomplex. Die Wissenschaft kennt aktuell 34 verschiedene Sinneszellen, die in einem laufenden Miteinander unsere Welt abbilden (2). Neben den klassischen 5 Sinnen (Sehsinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Tastsinn, Hörsinn) können wir nach der 9sensesXbeerience-Methode weitere 4 Sinne benennen: Zeitsinn, Bewegungssinn, viszeraler Sinn und intuitiver Sinn. Alle spielen auch bei der Bierbewertung eine Rolle und beeinflussen sich gegenseitig. Wissenschaftlich spricht man hier von einer Wahrnehmungsdynamik, wo gegenseitig abschwächende und verstärkende aber auch maskierende Effekte auftreten und dazu noch eine zeitliche Komponente hinzukommt (3,4). Die Aromastoffe im Bier verdunsten gemäß ihren spezifischen Flüchtigkeitskonstante K unterschiedlich schnell und werden daher nicht zeitgleich von den Riechsinneszellen verarbeitet. So hat das Brotkrustenaroma Melanoidin K <1 Pa*L/mmol und das bananige Aroma Isoamylacetat K = 38,5 Pa*L/mmol in einer reinen wässrigen Phase, Die Werte dürften im Bier etwas höher liegen (5). Hinzu kommt, dass Isoamylacetat einen niedrigeren Erkennungsschwellenwert als Melanoidin hat. Daher werden wir ein Bananenaroma bereits beim Antrunk und eine vorhandene Röstaromatik erst zeitlich versetzt bemerken. Entsprechend fördern hohe schlanke Biergläser mit einer langen Wegstrecke der aufsteigenden Kohlensäure die Anreicherung von Röstaromen im Gasraum des Bierglases.
Das Bier selbst unterliegt im Glas der Oxidation. Die am Glas anhaftenden schaumigen Bierreste liefern uns mit der Zeit neue Aromastoffe – nicht ohne Grund bleibt bei der Oktoberfest-Maß gerne ein „Noagerl“ zurück. Auch das Riechen orthonasal über die Nase ergibt andere Ergebnisse als das retronasale Riechen mit Einflüssen der Erwärmung, Oberflächenvergrößerung durch Verteilung im Mundraum und der Kohlensäureblasenbildung und der Reaktion mit dem Speichel. Nicht grundlos unterscheiden wir daher in Qualitäten des Antrunks, Haupttrunks und Abgangs. Eine nachhängende Adstringenz als Beispiel eines negativen Abgangs kann bekanntlich den positiven Ersteindruck völlig zunichte machen.
Eben weil die Sensorik ein schwer greifbares Fachgebiet der Analytik ist und der Mensch vielen inneren und äußeren Einflussfaktoren unterliegt, die das Messergebnis verfälschen können, hat man sich bisher schwer getan, den sensorischen Analyseergebnissen hundertprozentig zu vertrauen. Schon kleine Fehler in der Probenvorbereitung, bei der Auswahl und der Anzahl der Verkoster oder beim Verhalten während der Verkostung kann das gesamte Verkostungsergebnis zunichte machen. Die sensorische Analyse ist daher wirklich eine anspruchsvolle Management-Aufgabe, der sich aber die global agierenden Braukonzerne wie Heineken oder etliche Craftbrauer Amerikas bereits umfassend stellen. Nachfolgend die Stellenbeschreibung von Sean Fuller, Brewery Sensory Scientist bei der Sierra Nevada Brewing Company:
„Überwachung aller Rohstoffe und Brauprozesse nach sensorischen Kriterien, Schulung aller mit sensorischen Aufgaben betreuten Mitarbeitern, Organisation von Verkoster-Panels, Aufbereitung der sensorischen Daten für das Team, Fehlerbehebungen bei allen Bieren und Rohstoffen, Aufrechterhaltung der sortenreinen Flavour-Attribute der jeweiligen Marke, Schutz und Dokumentation gegen Flavour-Drift, Mitarbeit bei Bierentwicklungsprozessen, Führung seiner Mitarbeiter: Sensoriktechniker, Associate Sensory Scientist, Sensory Manager, Sensory Supervisor, Senior Sensory Data Analyst.“
Wie man sieht, nicht nur ein breites Aufgabenfeld, sondern auch eine verantwortungsvolle Position mit etlichen Mitarbeitern. Eine Arbeit, die nicht umsonst ist, wie die Rankings beispielsweise im amerikanischen Beer & Brewing-Magazin, den Erfolgen beim World Beer Cup und die Tastings zusammen mit Braumeister Scott Jennings beim alljährlichen Braumeistercamp der Kiesbye Akademie eindrucksvoll belegen!
Die sensorischen Aufgaben in einer Brauerei sind aber noch vielfältiger, als diese Stellenbeschreibung von Sean Fuller ohnehin zeigt. So können die spezifisch trainierten Sinne eingesetzt werden, um den Produktionsprozess zu überwachen. Ob pfeifende Luftventile, tropfende Wasserhähne, heulende Gleitringdichtungen, Schimmelflecken oder Ungeziefer – wer auf seine Sinne sensibilisiert ist, erkennt Schwachstellen schon beim Rundgang. Der Sensorik Manager hilft aber ebenso bei der Gestaltung von Verpackungen mit, liefert die Bierbeschreibungen für Etiketten, Website und Werbe-Drucksachen, unterstützt bei der Umgestaltung des Brauereiführungsweges zu einem sensorischen Erlebnispfad, vermittelt dem Aussendienst die notwendige sensorische Biersorten-Kompetenz und leitet für das Marketing Marktforschungsprojekte.
Zusammenfassung
Die Brauerei Sensorik ist ein elementarer Bestandteil des modernen Qualitätsmanagements. Insbesondere geht es nicht nur um Bierfehler-Erkennung, sondern um das pro-aktive sensorische Designen der Biersorten mit vom Markt bevorzugten Flavour-Attributen. Die Aufgaben der Sensorik sind so vielfältig, dass sie gut gemanagt werden müssen.
Für diese Mammut-Aufgabe hat die Kiesbye Akademie 2022 eine 185 Unterrichtseinheiten umfassende Ausbildung zum/zur Brauerei Sensorik Manager/in entwickelt, die zusammen mit der Technischen Universität München, dem Team rund um Dr. Martina Gastl vom Forschungszentrum für Bier und Lebensmittelqualität Weihenstephan, durchgeführt wird und aus zwei Präsenzblöcken, die erste Woche in Weihenstephan und die zweite Woche in Obertrum in der Nähe von Salzburg, sowie einem umfangreichen Onlinekursteil besteht und TUM-zertifiziert ist. Infos: www.kiesbye.at